Soll der Mensch bzw. der Körper einfach so wie eine Maschine funktionieren? Man schaltet ein, man schaltet aus. Und wenn die Maschine an ist, funktioniert sie.

So funktioniert das beim Körper und Menschsein aber nicht. Zumindest meiner Erfahrung nach nicht. Und ich bin froh, dass dem nicht so ist. Wir sind schöne, kreative und widerstandsfähige Wesen, die ganz anders ticken als Programme oder Maschinen.

Menschsein vs. die Objektivierung des Selbst 

Ich vermute, dass leider viel zu viele von uns auch außerhalb von Krisenzeiten so mit sich und ihrem Körper umgehen, weil es fast normal geworden ist, dass man zu funktionieren hat. Wir haben’s halt so gelernt von unseren Rollenbildern. Und diese Objektivierung des Selbst wird gehört zum Status-Quo und Zeitgeist, was zum Beispiel in der Quantified Self-Bewegung und ähnliche Trends sichtbar wird. Die Selbstoptimierung ist oft gleichzusetzen mit der Objektivierung des Selbst anstatt dem Menschen zu dienen, ein gutes Leben zu führen.

 

Ich will nicht weiter auf die Themen der Objektivierung oder des veralteten Bildungssystems der Industrialisierung eingehen, die dabei mitwirken, sondern mich einem Gedanken widmen, der mir in den Sinn kam, als ich in den Medien und von PolitikerInnen vermehrt die Phrase “das öffentliche Leben runterfahren” gehört habe. 

 

System runterfahren = Überlebensmodus

Auf Körperebene entspricht das Runterfahren dem Überlebensmodus. Das heißt zum einen, dass der Körper Stress hat, weil eine außergewöhnliche Situation eintritt und zum anderen, dass er sich – je nach Situation und erlernter Präferenz für Kampf,  Flucht oder Erstarren entscheidet. 

 

Das Blöde an dieser Geschichte ist, dass wenige von uns gelernt haben, aus diesem Stressmodus wieder auszusteigen, sobald wir erkennen oder spüren, dass es nicht mehr der aktuellen Situation entspricht. Das ist nicht erst jetzt seit dem Beginn der Corona-Pandemie ein Thema, sondern ist schon länger beobachtbar and Zahlen von Menschen, die an Burnout leiden, chronisch gestresst sind (dazu gehört auch der Freizeitstress und der Drang immer was erleben zu müssen), oder an Schlafstörungen leiden.

 

Stress ist nicht nur eine Sache des Individuums sondern auch des Kollektivs

Da wir soziale Wesen sind und unser Nervensystem permanent mit der Umwelt und anderen Menschen im Austausch ist, kann unser Stress- und Überlebensmotor anspringen, auch wenn für uns individuell und persönlich gerade keine Überlebensangst notwendig ist.

Sofern ich nicht gelernt habe “runter zu kommen”, d.h. mein Nervensystem selbst zu regulieren, kann der Stressmodus in der aktuellen Corona-Situation bei jedem anspringen, egal ob man/frau finanziell gut abgesichert ist und sehr komfortabel wohnt, oder ob man tatsächlich in einer prekären Situation ist und von Mehrfachbelastungen betroffen ist. 

 

Ich denke, viele von euch haben in den letzten Wochen und Monaten der Ausgangsbeschränkungen Momente erlebt, wo ihr Stress und Unsicherheit wahrgenommen habt. Könnt ihr sagen, was von dem Stress gefühlt aus dem Kollektiv genährt war und was von euch selbst? Manchmal hilft es, auf dieser Ebene differenziert wahrnehmen zu können. 

 

Aber auch wenn ich jetzt nicht gestresst sein müsste und den Stress (ob aus dem Kollektiv oder mein alter angesammelter Stress) trotzdem wahrnehme, kann ich Eigenverantwortung übernehmen, und Wege finden, wieder zur Ruhe zu kommen. Das ist ein wertvoller Beitrag den jede/r von uns leisten kann – Selbstfürsorge praktizieren und schauen, dass es uns gut geht. Das ist nicht nur eigennützig. Wenn ich und mein Nervensystem ruhig sind, wirkt auch das im Kollektiv.

Das Runterfahren hat Auswirkungen auf uns

Die Phase des Lockdown war keine kurze. Und das hat Auswirkungen.

Ein paar negative Auswirkungen, die eintreten können, wenn wir im Stressmodus hängen bleiben:

  •  Reduzierte Kreativität, die wir für neue Lösungsansätze und Ideen benötigen.
  • Wir treffen keine guten Entscheidungen, weil u.U. zu emotional oder zu eingeschränkte Sicht auf die Dinge (blinde Flecken). 
  • Negativer Einfluss von Stress auf das Immunsystem – können wir zu Corona-Zeiten auch gerade nicht gut brauchen.

 

Der Kopf wünscht sich oft, alles unter Kontrolle zu haben. Dabei gibt es, wenn wir ganz ehrlich sind, sehr wenig, das in unserem direkten Einflussbereich liegt. Und in Form unserer erlernten Muster und Gewohnheiten versuchen wir, einen Zustand von (gefühlter) Sicherheit zu erzeugen.

Im Alltag mögen die Ebenen, wo sich diese Muster zeigen schwer erkennbar sein und deshalb unter unserem Radar ablaufen.

In der aktuellen Krise, wo sehr klar von politischer Seite Regeln vorgegeben werden, ist spürbar, was ich beeinflussen kann und was nicht. Das finde ich per se gar nicht schlecht. Das kann mir, wenn ich bereit bin und Kapazitäten habe, aufzeigen, wo ich Energie investiert habe, um gefühlte Kontrolle oder Sicherheit für mich herzustellen. Das kann mir Aufschluss geben, wo ich Energie und Aufmersamkeit geparkt habe, die ich auf andere Weise sinnvoller für meine Präsenz und wirkungsvolles Handeln einsetzen kann. 

 

Was wir beeinflussen können

Worauf wir stets Einfluss nehmen können, ist unsere Haltung zur Situation. Und das meine ich buchstäblich und metaphorisch.

Wir können auch bewusst Einfluss auf unsere Atmung nehmen. Das ist kein Allheilmittel und ändert die äußeren Umstände nicht.

Allerdings kann es meinen Gemüts- und Körperzustand beeinflussen und mich in die Handlungsfähigkeit – im möglichen Rahmen- bringen. 

 

Atmung ist ein Weg aus dem Stressmodus

Ein einfacher und vielleicht der direkteste Weg, aus dem Stressmodus auszusteigen, ist über die Atmung. 

Jedes Muster, auch der Stressmodus, geht immer mit einem bestimmten Atemmuster einher. Das ist im Stress meist schnell und flach. 

 Sobald wir die Atemzüge pro Minute reduzieren und auf entspannte Weise voll atmen, hört der Körper auf, Stresshormone zu produzieren.

Im Entspannten Modus kann sich nicht nur der Schlaf und die Verdauung wieder erholen, sondern auch kreatives Denken und die Fähigkeit, das große Ganze zu sehen, kehren zurück. 

 

Eine Atemtechnik, die das mit viel wissenschaftlichem Hintergrund gut belegt und ermöglicht, ist das Kohärente Atmen. Das kann jedermann und -frau mittels einer SmartPhone-App leicht machen. (Wie’s geht habe ich auf Englisch in diesem Blog beschrieben.)

 

Wenn ich Runterfahre, brauche ich auch einen Neustart

Wenn die Politik wieder Hochfahren will, ist das ein positives Zeichen. Man kann jedoch nicht davon ausgehen, dass das auf menschlicher Ebene, die dann auch weitreichende Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesundheit und Leistungsfähigkeit hat, wie auf Knopfdruck funktioniert.

Die ersten Tage nach dem Auslaufen der Beschränkungen waren mitunter befremdlich und ungewohnt für mich. Vielleicht ist es einigen von euch auch so ergangen?

Eigentlich bräuchte es Unterstützung und vor allem Bewusstseinsbildung, was das Hoch- und Runterfahren für uns Menschen auf physiologischer, emotionaler und mentaler Ebene bedeutet. 

Ich würde mir wünschen, dass Körperbewusstsein, Atmen und die mögliche daraus resultierende Selbstbestimmtheit Teil des Bildungssystems wird und ein etabliertes Angebot in der Arbeitswelt. 

 

Um gesund und nachhaltig in die Zukunft gehen und diese mitgestalten zu können, braucht es Menschen, die ihren individuellen Fähigkeiten und Potentialen vertrauen. Menschen, die Leadership übernehmen und ihre Menschlichkeit leben. 

Bist du dafür bereit?